Interview in der Berliner Zeitung

Am 20.04. Erschien unter dem Titel „Zurück zur Wanderoper“ ein Interview mit Arnold Schrem in der Berliner Zeitung.

Das Gespräch führte Birgit Walter

Das Land Brandenburg hat beizeiten Tatsachen geschaffen – noch bevor bundesweit der Kampf um den Erhalt der Stadttheater begann und bevor er 2011 mit der Überschuldung der Länder und Kommunen eine neue Dramatik erreichte. In den Neunzigerjahren entledigte sich Brandenburg bis auf ein einziges Dreispartenhaus seiner Theater und ihrer Traditionen. Heute gibt es in Potsdam, Senftenberg und Schwedt noch kleine Schauspieltruppen, in Brandenburg und Frankfurt nur noch ensemblefreie Mehrzweckbauten. Die Schließungen und Entlassungen – alle auf Initiative der SPD – fanden unerschrocken und unweinerlich statt. Heute nennt sich Brandenburg „Kulturland“. Mit dieser Situation setzt sich der Opernregisseur Arnold Schrem auseinander. Er will die Oper im Land neu beleben, weil er meint, dass die Brandenburger Jugend nicht ohne Zugang zu diesem Genre aufwachsen soll.

Herr Schrem, Sie wollen eine Wanderoper gründen. Wie kommen Sie darauf, dass es in Brandenburg einen Bedarf gibt? Brandenburg hat doch Berlin. Und Cottbus spielt noch gelegentlich Musiktheater in seinem Dreispartenhaus. An Sommer-Wochenenden gibt es zudem Oper in Rheinsberg.

Ich glaube ja, dass jedermann Oper braucht, um ein guter Mensch zu werden. Sie muss aber in erreichbarer Nähe sein, sonst nutzt sie nichts. Es ist ein Trugschluss anzunehmen, dass die Überfülle in Berlin die Fläche in Brandenburg mit versorgt. Vielleicht Menschen mit hohem Bildungshintergrund, Pfarrerstöchter und Apothekersöhne, ja, aber die Mehrheit profitiert nicht. Ich bin ja geprägt von Felsenstein und der Komischen Oper und überzeugt, dass Theater etwas ist, das man zum Leben braucht. Bis spätestens 14 Jahren, sagen Wissenschaftler, muss eine Berührung stattgefunden haben, sonst ist es zu spät, sonst bleiben die verschlüsselten Formen fremd.

Für einen Opernfreund ist Berlin nicht zu weit.

Nicht für einen Opernfreund, für die meisten Menschen schon, für Schüler zumal. Ich beobachte das doch: Bad Freienwalde hat einen ganz aktiven Gymnasiallehrer, Musiklehrer mit eigener Bigband, eigenem Chor – er hat es in vier Jahren einmal geschafft, mit seiner Klasse in die Staatsoper zu fahren. Es ist aufwendig, teuer, braucht Planung, Fahrgemeinschaften. Musikfreunden kann man sagen: Macht euch auf den Weg, nach Hamburg ins Musical ist es euch auch nicht zu weit. Aber bei Schülern hat der Staat die Bringepflicht eines umfassenden musischen Unterrichts, die Chance der Opernbegegnung aber geht hier verloren. Es verschwinden gerade ganze Kunstformen aus dem Bewusstsein, aus der öffentlichen Wahrnehmung eines ganzen Landes, neben der Oper ja auch der Tanz. Da ist Brandenburg leider bahnbrechend in Deutschland. Es ist das einzige Land mit nur einem Dreisparten-Theater. Es hatte mal fünf. Nein, das ist nicht typisch ostdeutsch. Selbst Mecklenburg-Vorpommern mit ähnlichen Problemen hat vier Drei-Sparten-Häuser, kulturaffine Länder wie Sachsen und Thüringen gehen anders mit ihrem Erbe um. Da gibt es noch eine flächendeckende Versorgung.

Brandenburg hat sich den Beinamen Kulturland gegeben. Stolz präsentiert es jährlich seinen Kalender mit Sommerfesten und Ministerpräsident Matthias Platzeck ruft den Touristen zu: „Willkommen in Brandenburg,… tauchen Sie ein in eine Welt der Ausgelassenheit und des freudigen Miteinanders“.

Ja ja, Events mit Partycharakter im Sommer, die gibt es, soll es auch geben. Aber diese ganzen Kulturfeste sind doch, salopp gesagt, von Brandenburg finanzierte Vergnügungen für Berlin-Touristen. Aber wenn die Schule nach dem Sommer weitergeht, ist alles vorbei. Am Ende ist das Brandenburger Steuergeld in solche Projekte geflossen. Zu oft geht es um Veranstaltungen für Touristen oder den Glanz eines Ortes, nicht für die Region. Auch die Kammeroper Rheinsberg sucht für ihre Sommer-Vorstellungen Sänger aus ganz Europa, als seien sie besser als die Berliner und Brandenburger. Die fünf Dreisparten-Theater, die Brandenburg früher hatte, waren zwar arm, aber nicht leer, und die Schulen haben sie angenommen. Es gab also auch ein Bedürfnis. Die Dinge verändern sich, klar, und angesichts des Bevölkerungsrückgangs und der Finanznot wird es kein neues Stadttheater geben. Es braucht also neue Strukturen. So kam ich auf die Wanderoper, eigentlich die Urform allen Theaters. Ich will das Überangebot an Künstlern in Berlin verbinden mit der künstlerischen Unterversorgung in Brandenburg, will also mit Absolventen der Hochschulen und arbeitsuchenden Künstlern arbeiten.

Auf fehlendes Interesse von Künstlern werden Sie nicht stoßen – von jährlich 2000 Absolventen deutscher Musikschulhochschulen haben etwa 150 Aussicht auf Anstellung an einem Orchester. Dennoch klingt Ihr Projekt nach einem neuen Billiglohnangebot.

Klar, man kann das auch Ausbeutung nennen, feste Engagements wird es nicht geben, die Projekte müssen ja finanzierbar bleiben. Aber besser als keine Arbeit ist es allemal – und eine Chance: Die Sänger bekommen Präsentationsmöglichkeiten. Überdies kann es die Praxisnähe von Hochschulen befördern. Viele Berufsanfänger haben ihre Fachpartien nie in Gänze gesungen. Sie hatten meist auch keine Begegnung mit Musical, müssen aber am Stadttheater von „Carmen“ bis „Cabaret“ alles beherrschen. Ich stelle mir zwei Projekte vor – die Wanderoper in Brandenburg und eine zugehörige Werkstatt in Berlin, in der die Stücke entstehen. Hier sind die meisten Arbeitslosen und bessere Fördermöglichkeiten.

So wie sich die Brandenburger Politik der letzten zwei Jahrzehnte bei der Vernichtung kultureller Strukturen präsentiert hat, müsste sie für Ihre Ideen, die Auswege aus einem Dilemma bieten, dankbar sein.

Sie ahnen, dass das nicht so ist. Kultur ist zu wenig im Bewusstsein unserer Landespolitiker verhaftet. Im Leitantrag des letzten SPD-Landesparteitags kommt Kultur nicht mal als Wort vor, stelle ich als SPD-Mitglied beschämt fest. Und Geld ist natürlich knapp. Leider wachsen die Verhältnisse unserem Projekt ja eigentlich zu. Denn es braucht eine neue Struktur. Deshalb hoffe ich, dass die Landesregierung noch mal Anlauf nimmt und das Projekt fördert – es geht doch um ihre Bevölkerung. Und ganz ohne öffentliche Förderung ist so ein Projekt selbst mit Sponsoren nicht zu schaffen.

Berlin leistet sich glücklicherweise noch die große Kultur, aber die Finanzierung der gewaltigen Apparate ist umstritten: Drei Opern verbrauchen jährlich 120 Millionen Euro, ein Drittel des Berliner Kulturetats. An die freie Theaterszene gehen nur 5 Millionen. Nach Königswegen wird nicht gesucht.

Na gut, die Oper braucht den großen Auftritt und den Apparat. Aber immer noch hört man von Verschwendungsorgien. Und im Dezember bin ich in der Deutschen Oper mal mittendrin nach Hause geschickt worden, weil das Orchester strikte. Also das fand ich beschämend, das Gefüge stimmt nicht mehr, nicht das zwischen Freien und festen Ensembles, auch an den Häusern selbst nicht, wo Gesangssolisten schlechter gestellt sind als Choristen oder Sekretärinnen. Aber das ist wieder ein anderes Thema.

Was wollen Sie spielen? Oper lebt ja auch von Glamour, gern von Klang- und Bühnenfülle, gerade, wenn sie Einsteiger begeistern soll.

Oper muss gar nicht opulent sein. Nur gut – lebensnah, ergreifend, nicht zu artifiziell und fremdartig. Wen wollen Sie denn nach „Avatar“ noch überwältigen? Oper muss mit der Erlebniswelt der Zuschauer zu tun haben. Wir suchen neue Formen und unkonventionelle Präsentationen, da kann Papageno schon mal Akkordeon spielen und das Orchester den Chor singen. Wir beginnen mit „Hänsel und Gretel“ und der „Zauberflöte“, mir schweben auch Konzerte und Ballett vor – es ist so eine Art musikalischer Grundversorgung.

Berliner Zeitung, 20.04.2011